„Bescheuert“-Skandal: Die Lust am schnellen Aufreger

Am Internationalen Tag der Pressefreiheit thematisieren die Medien staatliche Übergriffe. Die Folgen der Ökonomisierung der Branche blenden sie aus. Die Berichterstattung über einen vermeintlichen Ausraster des Schweriner Regierungschefs ist ein Lehrbeispiel.

Das bringt Klicks, Likes im sozialen Netzwerk Facebook und lockt am Kiosk: „Sellering beleidigt Demonstrantin“, „Sellering mit Wutausbruch in Wolgast“ lauten Schlagzeilen nach einem Auftritt des Schweriner Regierungs- und SPD-Parteichefs in der Peene-Stadt.

Als der Ministerpräsident bei der Eröffnung eines SPD-Bürgerbüros vor der Tür auf einige Demonstranten trifft, die lautstark und ungehalten die Politiker für das Vorgehen bei der Schließung der Kinder- und Geburtenstation des örtlichen Kreiskrankenhauses in Wolgast kritisieren, nimmt die vermeintliche Entgleisung ihren Lauf. Nachdem Sellering mit mehreren Versuchen gescheitert ist, eine nach den langanhaltenden Protesten gefundene Kompromisslösung zu erklären, wendet er sich entnervt ab. Zweifelsfrei dokumentiert sind in einem auf Facebook und Youtube kursierenden Video die Worte „es reicht“, er habe „keine Lust mehr“.

Der von der UNESCO initiierte Tag der Pressefreiheit wird seit 1994 am 3. Mai begangen. Er soll auf die grundlegende Bedeutung freier Berichterstattung für die Existenz von Demokratien und an die Bedrohung des unabhängigen Journalismus in vielen Teilen der Welt aufmerksam machen.
Mit einigem guten bzw. schlechten Willen kann man auch das Wort „bescheuert“ identifizieren – Startschuss für einen flink herbeigeschriebenen Skandal. Die angebliche Empörung der Netzgemeinde – „die Nutzerkommentare zu dem Facebook-Video sprechen für sich“ – veranlasst den Nordkurier zum Anruf in der Staatskanzlei, die sich mit einem Dementi um Schadensbegrenzung bemüht.

Zu spät. Auch eine eilige Entschuldigung des sonst bei derlei Gegenwind meist um Gelassenheit bemühten „Landesvaters“ nützt nichts. Ostsee-Zeitung und Schweriner Volkszeitung legen nach: Während sich das Blatt aus der Landeshauptstadt um den Anschein von Seriosität bemüht und einen Politikwissenschaftler für eine psychologische Fernanalyse gewinnt („Er ist aus der Rolle gefallen“), präsentieren die Rostocker neben dem Verweis auf Kommentare auf Facebook und Co. sowie dem Statement eines Psychologen („Experte für die Emotion Wut“) ausgerechnet AfD-Landessprecher Leif-Erik Holm als Kronzeugen für politische Debattenkultur. Das Zitat ist direkt einer Pressemitteilung der rechtspopulistischen Partei entnommen.

Mit minimalem Rechercheaufwand – mehr gibt die dünne Personaldecke anscheinend nicht mehr her – entstehen so schnell Beiträge, die maximale Aufmerksamkeit erzeugen. Der Hintergrund freilich bleibt im Dunkeln: Die Frage nach der Herkunft des Videos stellt nur der NDR.

Tatsächlich steckt hinter dem Film-„Beleg“ alles andere als der Prototyp des unabhängigen Beobachters. Der Urheber, Kai Ottenbreit, tritt als freiberuflicher Journalist mit eigenem Nachrichtenportal („Schmusedom News“) ebenso auf wie als selbsternannter Vorkämpfer der Bürgerinitiative pro Kinderstation Wolgast, was bei dieser nicht auf ungeteilte Zustimmung stößt. Im fraglichen Video wird seine Doppelrolle mit lautstark vorgetragenen Kommentaren zum Geschehen für Kenner der Szene mehr als deutlich, die Leser der Tageszeitungen im Land erfahren davon jedoch nichts.

Ob Volkes Stimme oder Stimmungsmache ist da schon längst entschieden: „Rund 98.000 Mal wurde der Videoclip ,Ministerpräsident beleidigt Mütter' bereits über Facebook aufgerufen“, konstatiert die Schweriner Volkszeitung. Die Quote stimmt schon mal.
3. Mai 2017